LESEPROBE PROLOG
Bösartig.
Gibt es ein Wort, das beängstigender klingt?
Bösartig.
Es klang fremd. Schleierhaft. Waberte in seinem Kopf wie Nebel nach einer eiskalten Vollmondnacht und begrub alle anderen Gedanken unter sich. Wenn er den Worten der Ärzte, die hinter der offenen Tür des Behandlungsraumes über sein Schicksal fachsimpelten, auch nur halbwegs Glauben schenken konnte, dann war er so gut wie tot. Eine Koryphäe wie Dr. Beckstein irrte sich nie. Nicht, wenn es um die Diagnose ging. Die wenigen Male bei denen ihm ein OP-Patient unter den Händen wegstarb, ließen sich an fünf Fingern abzählen. „So etwas schafft Vertrauen“, dachte Wolfgang.
Etwa wie bei Fluglinien, die in Statistiken die wenigsten Abstürze zu verzeichnen haben. Und so hatte er bis zuletzt gehofft, dass der Krug an ihm vorbeiziehen würde. Eine Zyste vielleicht, oder eben doch ein Tumor, dann aber ein gutartiger und keine verdammte Malignität!
Dieser ausgezeichnete Spezialist wird ihn finden, den kleinen Mistkerl in meinem Kopf. Dr. Beckstein stöbert ihn auf, in welchem Winkel er sich auch immer verstecken mag. Mit seinem blitzblanken Skalpell erklärt Beckstein ihm den Krieg. Er macht ihn fertig, den feigen Bastard.
Die Hoffnung zerschellte, als wäre er mit einer dieser vertrauenserweckenden Fluglinien gegen einen Berg geprallt. Aus. Zero. Verdammte Statistiken. Wolfgang wurde sich darüber bewusst, dass er für Sekunden aufgehört hatte zu atmen. Oder waren es Minuten? Als er nach Luft geschnappt hatte, vernahm er das Pochen in seiner linken Brust. Es beunruhigte ihn, schlimmer noch, es verstärkte die Angst.
Jetzt noch ein Herzinfarkt und die können mich gleich einliefern, dachte er.
„Entschuldigen Sie?“
Die Stimme riss ihn aus den Gedanken, und eine freundliche Sprechstundenhilfe schob sich an ihm vorbei in die Praxis. „Bleiben Sie doch bitte im Warteraum. Dr. Beckstein ruft sie gleich rein.“
Vor ihm schloss sich die Tür, hinter der sich all das Grauen verbarg. Die ganze Zeit lang hatte er es geahnt. Das Mut spendende Schulterklopfen der Freunde und Kollegen, die tröstlichen Worte seiner Freundin.
Das alles war reiner Zirkus. Er hätte sich viel eher untersuchen lassen müssen. So wie sein Bruder es ihm geraten hatte – anstatt die Entscheidung, einen Spezialisten aufzusuchen, über Monate vor sich herzuschieben. Aber er hatte ja so viel zu tun. Der anstrengende Job, die permanenten Verpflichtungen, die selbst nach seinem 70. Geburtstag vor knapp drei Monaten alles von ihm abverlangten. Für die eigene Gesundheit blieb immer zu wenig Zeit, und die begann sich jetzt im rasenden Tempo aufzulösen.
Doch als Geschäftsführer eines bedeutsamen Immobilienunternehmens springt man nicht so einfach von Bord, nur weil mal der Kopf brummt. Er war der Kapitän, starken Seegang war er seit jeher gewöhnt. Aber der war jetzt zur Monsterwelle mutiert, und wenn er den Wortlaut hinter der Tür richtig vernommen hatte, blieben ihm noch drei Monate, bis der Tsunami über ihn hereinbrechen würde.
Ein Blick in den Warteraum. Leere. Was bedeutete, dass er nicht allzu lange warten musste, um von Dr. Beckstein zu erfahren, was ihm längst bekannt war. „Der Lauscher an der Wand hört die eigne Schand“, pflegte seine Mutter zu sagen. Das hatte er jetzt davon, dass er niemals auf sie hörte. Doch wenn die Behandlungstür nun mal einen Spalt offen stand, einen klitzekleinen Spalt, und die Ärzte lautstark über ihn sprachen, was hätte er da anderes tun sollen, als zu lauschen? Im Nachhinein hätte er sich lieber die Ohren zugehalten. Bestrahlung. Chemo. Hirn-OP. Wozu? Um am Ende dahin zu vegetieren, wie er es bei einem Freund beobachtet hatte? Ein Freund, der dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe sprang?
Dann doch lieber wie ein „alter weißer Mann“ in den eigenen Stiefeln sterben, wie es Karl May zu sagen pflegte.
Wolfgang war ein großer Fan von Winnetous Schöpfer, warum sich also nicht ein paar neue Cowboystiefel gönnen, die er an seinen Westernhelden so bewunderte?
Er schaute an sich hinunter, auf die edlen Salvatore Ferragamo-Schuhe. Der Gedanke, sich dieser italienischen Handwerkskunst zugunsten eines Cowboystiefels zu entledigen, drängte sich ihm unweigerlich auf. „Stiefel“, flüsterte er, „ich brauche neue Stiefel!“
Hals über Kopf verließ er die Arztpraxis, überquerte die stark befahrene Kreuzung bei Rot und störte sich nicht an dem Hupkonzert, das wütende Autofahrer seinetwegen veranstalteten. Sie hätten ebenso gut mit Steinen nach ihm werfen können, er hätte es ertragen! Mit schnellen Schritten bog er um die Ecke der kleinen Einkaufsstraße und verschwand im Eingang des „rettenden“ Schuhgeschäftes.